EcoOnline Logo Helge Schalk: Eco zur Einführung

 

      

1. Ästhetik

Umberto Eco ist wohl der bekannteste zeitgenössische Semiotiker. Eco lebt und arbeitet - überwiegend - in Bologna. Hier leitet er die Scuola Superiore di Studi Umanistici. 30 Ehrendoktortitel, 16 Literaturpreise und sonstige Auszeichnungen seit 1981 (Stand: Januar 2002) sind Beleg für die weltweite Anerkennung Ecos als Romancier und Semiotiker. Am 5. Januar 1932 in Alessandria geboren, hatte sich Eco zunächst mit der Philosophie des Mittelalters und Problemen der Ästhetik beschäftigt, bevor er sich mehr und mehr der semiotischen Forschung zuwandte. Nach seiner Dissertation über das Problem des Ästhetischen bei Thomas von Aquin (1955) veröffentlichte er mit Das offene Kunstwerk (1962) eine der wohl einflussreichsten Arbeiten zur modernen Ästhetik. Sein Konzept von "Offenheit" als Chiffre für die Beteiligung des Rezipienten an der Generierung des Kunstwerks nimmt bereits Einsichten der später durch Jauss und Iser in den Rang einer eigenständigen Literatur- und Kunsttheorie erhobenen Rezeptionsästhetik vorweg. "Offenheit" wird als zentrale ästhetische Kategorie der modernen Kunst ausgewiesen. Moderne Kunstwerke transportieren keinen eindeutigen "Sinn", der vom Rezipienten lediglich passiv aufgenommen wird, sondern gewinnen in jeder Interpretation eine je eigene "Bedeutung". In der Kunst verwirklicht sich, was Valéry für die Literatur konstatiert: "il n'y a pas de vrai sens d'un texte".

2. Erzählprosa

Vielen Lesern ist Eco vor allem durch seine Romane und Erzählungen bekannt. Nach dem Welterfolg mit Der Name der Rose (1980 - weltweit ca. 25 Mio. verkaufte Exemplare) hat er in Das Foucaultsche Pendel und Die Insel des vorigen Tages zwei weitere ausgreifende Romanerzählungen vorgelegt, die vielfach der literarischen Postmoderne zugeordnet werden. Mit Baudolino kehrt Eco thematisch wieder in das Mittelalter zurück. Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, Ecos jüngster Roman, hingegen ist eine Hommage an die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – mit autobiografischen Elementen.

Komplizierte Geflechte von Erzählhandlung, zeichentheoretischen Reflexionen sowie kultur- und philosophiegeschichtlichen Fragestellungen lassen Ecos Romane zu für den Leser in ihrer ganzen Materialfülle beinahe undurchschaubaren literarischen Labyrinthen werden. Ganz im Sinne des Diktums von Leslie Fielder, "cross the border, close the gap" (erschienen im Playboy), mit dem seinerzeit die Diskussion um die sogenannte "Postmoderne" ausgelöst worden ist, durchdringen sich literarisch Erzähltes und Philosophisch-Theoretisches wechselseitig. Dabei entlarvt Eco - zum Begriff der Postmoderne befragt - diesen selbst als "Passepartoutbegriff" ohne eigentliche terminologische Schärfe. Zu den Klassikern dieses Denkparadigmas würde, wie Eco augenzwinkernd versichert, gewiss bald auch Homer gezählt werden (Nachschrift zum Namen der Rose).

Der Name der Rose (1980) ist, wie in der inzwischen umfangreichen Sekundärliteratur häufig betont wurde, nicht nur ein historischer Roman, sondern auch eine literarische Inszenierung der semiotischen Theorie, die Eco vor allem in A Theory of Semiotics (1976) umfassend grundgelegt hat. In Das Foucaultsche Pendel (1988) liegt der Schwerpunkt dann eher auf der Tradition des abendländischen Irrationalismus und dessen Kritik. Eine Kontinuität irrationalistischen Denkens sieht Eco vor allem in poststrukturalistischen Theorien der Fehlinterpretation (vgl. dazu Die Grenzen der Interpretation). Die Romanhandlung rankt sich daher um eine mysteriöse Geheimbotschaft, deren Entzifferung zu einer Verschwörung führt, die mit dem Tod der Protagonisten endet. Mit semiotischer Klugheit gelingt es zwar Lia, der Freundin des Helden Casaubon, die angebliche Geheimbotschaft als simple "Wäscheliste" zu durchschauen, doch zu diesem Zeitpunkt haben sich die Fehlinterpretationen des Textes bereits verselbstständigt, und der tragische Ausgang der Romanhandlung ist nicht mehr aufzuhalten. Interpretationen also sind nicht nur diskursspezifische Mechanismen, sondern sie verändern die reale Welt. Und eben daher braucht die semiotische Textpragmatik Parameter, die gelungene von misslungenen Interpretationen abzugrenzen erlauben.

In Die Insel des vorigen Tages werden die Identitätskrise und die aussichtslosen Bemühungen des Protagonisten Roberto, das ihn gefangenhaltende Schiff zu verlassen, zum "Spiegel" einer Welt im Umbruch. Der vergebliche Versuch, die rettende Insel zu erreichen, kann als Metapher für eine sich verlierende Erkenntnisgewissheit durch philosophischen und wissenschaftlichen Fortschritt gedeutet werden. An die Stelle des cartesianischen "Ich denke" tritt ein umfassender Zweifel an der Welt, der schließlich in den Zweifel an der eigenen Identität - pointiert inszeniert in der imaginierten Zwillingsbrudergestalt des Protagonisten - einmündet. Die mangelnde Fähigkeit, sich den Anforderungen einer konsequent neu zu interpretierenden Lebenswirklichkeit zu stellen, wird durch Robertos vergebliche Versuche, Schwimmen zu lernen, illustriert. Auch die Metapher "Schwimmen" kann wiederum auf Literatur und ihre Interpretation bezogen werden. Roberto versucht fälschlicherweise, Muskeln aufzubauen, um Schwimmen zu lernen. Schwimmen aber lernt man durch Schwimmen - das Geschäft der Interpretation mit semiotischer Klugheit eben durch Interpretieren.

Alle Romane sind Musterbeispiele postmoderner Montagetechnik. Am deutlichsten lässt sich für Das Foucaultsche Pendel nachweisen, dass diese Montage gelegentlich zum Eklektizismus wird - vor allem, wenn historische Texte und solche fremder Kulturen oder Glaubensartikel obskurer Sekten Plausibilität im Hier und Jetzt beweisen sollen - einer immerhin streng rationalen, modernen Gegenwart. Insbesondere für Die Insel des vorigen Tages gilt ferner, dass durch die Montage frühneuzeitlicher Texte und Textfragmente der Romantext ein stärkeres Eigenleben gegenüber dem montierenden Autor gewinnt - freilich um den Preis einer für Leser/innen fremden, gelegentlich hermetisch geschlossenen Sprache, die Fremdes als Fremdes transportiert, ohne es zu assimilieren. Diese Erfahrung des Fremden als Fremdes in der Lektüre wird noch verstärkt durch die fortwährend stagnierende Handlung. Nur gelegentlich unterbrechen Handlungssequenzen, die wie Filmszenen in den Text einmontiert sind, dessen Eigenreferenz. So werden Leser/innen in ihren Interpretationen verwiesen auf die Sprache der Narration - weniger auf die Narration -, die ihre systemische Eigendynamik darum allererst als Stil entfalten kann. Sprache symbolisiert dergestalt sich selbst. Der Text wird zum Meta-Text. Der Referent ist die Referenz selbst. Wiederum: Der eigentliche Protagonist des Textes ist das System der Zeichen - und, mehr noch, sind die Mechanismen der Zeicheninterpretation.

Das Verfahren der Text-Montage greift Eco auch in seinem jüngsten Roman Baudolino wieder auf, und der Roman beginnt nicht ohne Grund bereits mit einer historischen Textmontage. Ein abgeschabtes Manuskript, auf dem gelegentlich Reste des Getilgten verbleiben, in Fraktur gedruckt, in einer Art lautmalerischem Mittelhochdeutsch verfasst führt die Leser/innen in die Handlung. Ein Fest der Zeichen gleich zu Beginn, wobei die gelegentliche Belanglosigkeit der erzählten Episoden und der unverhohlene, bisweilen vulgäre Sprachwitz verraten, was hier gefeiert wird ... Bemerkenswert und für die Interpretation von besonderem Interesse sind die autobiografischen Züge des Epos', die Eco von Anfang an nicht verschwiegen hat. Und tatsächlich: Baudolino ist mehr als ein historischer Roman wiederum ein Meta-Text, dessen Gegenstand der Text, das Schreiben, ist. Baudolino spielt zwar erneut im Mittelalter, liest sich jedoch passagenweise als intellektuelle Autobiographie. Wiederum bietet sich dem Leser neben der Handlungsebene eine weitere zur Interpretation an. Thematisiert wird das Erzählen, das Schreiben gewissermaßen als Substitution des Lebens.

"Es kam mir so vor, als ob ich überhaupt nur existierte, um abends aufzuschreiben, was mir tagsüber widerfahren war."

Für die Leser/innen bedeutet dies freilich, dass sie in ihren Interpretationen auf das System Sprache verwiesen werden - auf ein rein symbolisches Universum mit dem Anspruch der Referenz ohne Referenten. Denn eine eigene Plausibilität der Ereignisse jenseits ihrer Erzählung existiert im Roman nicht. Diese Konvergenz von Symbol und Tatsache spricht der Protagonist Baudolino bereits zu Beginn der Erzählung exemplarisch aus:

"Was ich sagen wollte, bei jener Flucht habe ich meine Aufzeichnungen verloren. Es war, als hätte ich mein Leben selbst verloren."

Wenn mit Baudolinos Aufzeichnungen "die Geschichte zu einem Buch der Lebenden" wird, wird sie dies - zeichenverhaftet - gleichermaßen und in der Narration gleichzeitig für den Protagonisten wie für die Leser/innen. Auch dies ist eine Eigenart der Sprache: ein Zeichensystem, das beständig über sich, über die eigenen Systemgrenzen hinaus verweist, ohne das Außen anders als eben sprachlich plausibilisieren zu können.

Konsequenterweise verwandelt Baudolino im Romanverlauf Geschichte in Geschichten; Geschichten, die historische Ereignisse erfinden, umdeuten und verfälschen. Dies alles - so etwa die Überführung der vorgeblichen Leichnahme der Heiligen Drei Könige nach Köln - geschieht eines konkreten politischen Nutzens wegen. (Sprach)Zeichen erschaffen Realitäten, sie sind in doppeltem Sinne Zeichenfunktionen. Zum einen, weil Historiographie offenbar politisch dienstbar gemacht wird (sie hat damit Um-zu-Struktur), zum anderen weil die Interpretation sprachlicher Zeichen eine Frage des pragmatischen Zeichengebrauchs ist. Wer erinnert sich angesichts dieses Umgangs Baudolinos mit Geschichte nicht an das frühe Diktum Ecos, die Semiotik sei Theorie der Lüge, eben weil sie sich mit allem befasst, was zum Lügen verwendet werden kann.

3. Semiotik

1975 tritt Eco die weltweit erste Professur für Semiotik an der Universität Bologna an. Ecos Interesse an der Zeichentheorie gilt einerseits der praktischen semiotischen Forschung - besonders in den Bereichen von Ästhetik und Literaturtheorie -, andererseits der theoretischen Fundierung der Semiotik, die er im Anschluss an Peirce und Morris zu einer universalen Kulturtheorie ausbaut. Ähnlich wie Cassirer begründet auch Eco die kulturwissenschaftliche Forschung zeichentheoretisch: "Der Mensch, so hat man gesagt, ist ein symbolisches Wesen, und in diesem Sinne sind nicht nur die Wortsprache, sondern die Kultur insgesamt, die Riten, die Institutionen, die sozialen Beziehungen, die Bräuche usw. nichts anderes als symbolische Formen." (Eco: Einführung in die Semiotik, S. 108) Ähnlich wie Cassirers Symboltheorie zur grundlegenden Kulturphilosophie wird, tritt auch Ecos Semiotik mit dem Anspruch auf, das Ganze der Kultur - Inbegriff von Kommunikationsprozessen mittels Zeichen - zu beschreiben. Cassirers "Kritik der Kultur" - diese Formel steht in der Philosophie der symbolischen Formen programmatisch für die Transformation der kantischen Transzendentalphilosophie in eine Zeichen- oder Symboltheorie - wird bei Eco zur "Logik der Kultur". Cassirers Versuch, in Anlehnung an Leibniz' "characteristica unversalis" eine umfassende "Grammatik der symbolischen Formen" aufzuweisen, wird bei Eco zum Versuch, ein universales Zeichenmodell zu skizzieren, mit dem sich letztlich das Ganze der kulturellen Welt durchdringen lässt. Dabei skizziert die Semiotik ein dynamisches Kulturmodell von sich verändernden Codes und stets neuen Regeln. Semiose ist ein historischer Prozess, der nur vorläufig endgültig zum Stillstand kommt. Zeichen werden beständig neu und anders interpretiert.

Ein Hauptproblem dabei freilich: Wie gewinnen wir Sicherheit über die Plausibilität eigener und fremder Interpretationen? In dieser Frage wird deutlich, dass eine Zeichentheorie, wie Eco sie aufrichtet, zugleich Sozialtheorie in einem distinkten Sinne sein muss. Denn Handeln im sozialen Raum ist Zeicheninterpretation, sei es auf einer ersten, basalen Ebene der physischen Reaktionen, sei es auf einer komplex-symbolischen Ebene der Interpretation. Ist die Verbindung zwischen Zeichen und Interpretationen auch willkürlich ("arbiträr") -, und hier geht Eco mit Jakobsons Kritik an Saussure konform - so sind die kulturell spezifischen Mechanismen der Interpretation dies eben nicht. Und deshalb führt die Erklärung der Mechanismen der Interpretation zurück zum peirceschen Konsensualismus: Geltung erlangen Zeicheninterpretationen durch Zustimmung der Interpretationsgemeinschaft - und mehr noch: durch Ausbildung eines finalen Interpretanten, der nach peircescher Zeichenlogik in einer Gewohnheit ("habit") besteht.

4. Literaturtheorie

In den neueren Diskussionen um den Text und um das Problem der Interpretation hat Eco sich vielfach auch polemisch zu Wort gemeldet. Er versucht, die Interpretation literarischer Texte gegen den Widerstand von Poststrukturalismus und Konstruktivismus wieder an ihren eigentlichen Gegenstand zu binden, den Text. Dieser wird als eine die Interpretation regulierende und partiell kontrollierende "faule Maschine" gedacht, die zwar Rezeptionsprozesse benötigt, um zu funktionieren, aber gleichzeitig nur dann als gestaltete Struktur verwirklicht wird, wenn auch den "Rechten" des Textes Geltung verschafft wird. Selbst offene Kunstwerke, die vielfältige, ja sogar einander widersprechende Interpretationen zulassen, sanktionieren ihre eigene Interpretation. Mit sarkastischem Unterton wird Derridas Insistieren auf einer Theorie der Fehlinterpretation ("misreading") mit der Überlegung konfrontiert, dass man eine zumindest vage Vorstellung davon benötige, was ein Text sei, wenn man sagen wolle, was er nicht sei. Und Eco zeigt auch, dass es Texte gibt, die auf eine eindeutige Interpretation dringen, unmissverständlich sein wollen. Dies gelte etwa für den Brief, in dem Derrida zur Verleihung eines Preises eingeladen werde.

Eine eigene, literatursemiotische Texttheorie versucht Eco zu gewinnen, indem er die peircesche Abduktionslogik zu einer stringenten Theorie der Interpretation umdeutet. Den kritischen Widerstand, auf den Eco, indem er an eine vernunftökonomische Falsifikationstheorie der Interpretation appelliert, stößt, illustriert der Sammelband Zwischen Autor und Text. Kritische Stellungnahmen, vor allem von Richard Rorty und Jonathan Culler, öffnen den Problemhorizont zeitgenössischer Texttheorien, die zugleich die maßgeblichen erkenntnistheoretischen Debatten der Gegenwart sind. Besonders interessant zu erfahren ist, was Eco der pragmatistisch-skeptischen Verweigerungshaltung Rortys entgegenzusetzen hat. Im argumentativen Verlauf der Debatte erinnert die Art des Dialogs stark an das "Gespräch" zwischen Gadamer und Derrida, das beiden Dialogpartnern als Ergebnis letztlich nur die Inkommensurabilität ihrer Positionen lehren konnte. Doch dies ist nicht Ecos Position, denn er ist mehr beeinflusst von einem Konsensualismus peircescher Provenienz. Idealiter müsse man von einer Interpretationsgemeinschaft aufgehen, die in the long run eine Einigung über richtige Interpretation diskursiv herbeiführt.

5. Und heute?

Betrachtet man die letzten Veröffentlichungen Ecos, dann scheint es, wir dürfen in Zukunft eher einen neuen Roman als ein neues semiotisches Grundlagenwerk erwarten. Auch weil die Zeit nicht nach einem philosophischen System ist - so war der Anspruch der Semiotik in den 1970er Jahren -, die Welt zu erklären. Obwohl solche Prognosen angesichts der Vielschichtigkeit des Werks Ecos höchst unsicher erscheinen. Mit Die Geschichte der Schönheit legt Eco 2004 eine illustrierte Ästhetik vor. Ebenfalls illustriert, sein neuer Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Entdeckt Eco nun das Buch als Multimedium?

 

Letzte Überarbeitung: August 2004.

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