Tatsache und Erfahrung.
Zur Theorie abduktiven Schließens
In der modernen Semiotik im Anschluss an Peirce ist die Abduktion zu einer festen zeichentheoretischen Kategorie geworden. Sowohl was die Grundlegung der Semiotik anbetrifft als auch in der praktischen semiotischen Forschung nimmt die logische Schlussform der Abduktion eine wichtige Systemstelle ein. Dies ist auf die Ausrichtung insbesondere der angelsächsischen Semiotik zurückzuführen, die mehr sein will als eine strukturalistische Theorie mit semantischen und syntaktischen Prämissen. Bekanntlich hatte Peirce den Blick geschärft für die stets dreiwertige Relation von Zeichenkonstellationen und die Semiotik verstärkt pragmatisch ausgerichtet, indem er die Relation von Zeichen und Interpretation in das Zentrum der semiotischen Forschung rückte. Damit wird die Semiotik zu einer dynamischen Kulturtheorie, die Kultur als Gesamtheit nicht von Signifikationssystemen, sondern von Kommunikationsprozessen begreift.
Abduktion ist eine logische Schlussform, die nach Peirce das Aufstellen von Hypothesen zum Zweck der Erklärung unbekannter und gänzlich neuer Tatsachen und Sachverhalte ermöglicht. Den Begriff gewinnt Peirce in Anlehnung an Aristoteles' apagoge und grenzt ihn von Induktion und Deduktion ab. Peirces Konzept von Abduktion wird anhand zahlreicher Textstellen und Beispiele erläutert, und es wird die Bedeutung und Reichweite einerseits für eine Theorie des Neuen, andererseits für Erfahrungsprozesse insgesamt aufgezeigt.
Auch innerhalb der zeitgenössischen Semiotik spielt die Abduktion eine entscheidende Rolle. Dies lässt sich insbesondere an Ecos Textpragmatik zeigen, mit Seiten blicken auf die Theoriegestalt der allgemeinen Semiotik. Eco differenziert drei unterschiedliche Arten der Abduktion aus und zeigt, wie sich de Interpretation literarischer Texte anhand dieser Abduktionsarten erklären lässt. Innerhalb der ecoschen Semiotik erfüllt die Abduktion zwei wesentliche Funktionen: Sie ist zum einen ein Verfahren zur Erschließung von Sinn. Zweitens ist Abduktion ein Mechanismus zur Veränderung und Bereicherung von Zeichensystemen.
Abschließend wird das Problem der Verifikation abduktiv gewonnener Hypothesen beleuchtet auch im Zusammenhang mit der konsensualistischen Ausrichtung der peirceschen Semiotik. Hier stößt die Semiotik auf das Problem der Objektpermanenz und ist genötigt, wie Eco dies in seinem jüngsten Buch Kant und das Schnabeltier tut, Stellung zur Relation von Objekt und variierenden Interpretationen zu nehmen.
In: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften, hrsg. von Frithjof Rodi. Weilerswist: Velbrück, 2003, S. 73-91.