Ludger Fittkau

Lese-Askese gegen die "Diät Berlusconi"

Zu: Umberto Eco: Im Krebsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München, Wien: Carl Hanser Verlag, 2007. 320 Seiten. EUR 23,50.

Im April 2002 veröffentlicht Umberto Eco in L’Espresso einen fiktiven Pressespiegel aus dem Jahr 2010. Ein mehrfach zu Haftstrafen verurteilter Mitarbeiter Berlusconis ist zu diesem Zeitpunkt Verfassungsgerichtspräsident und schreibt in der Zeitung Corriere della Sera Padana einen Leitartikel mit dem Titel: "Zehn Jahre Diät". Der Autor schildert, wie es sprachpolitisch gelungen ist, den Begriff "Regime", den Eco noch zu Beginn der Regierungstätigkeit Berlusconis verwendete, um dessen Herrschaftsform zu beschreiben, in den Begriff "Diät" zu verwandeln. Denn laut Wörterbuch kann Regime auch "Ernährungsweise, Gewohnheit oder hygienische Norm" bedeuten. Seit 2006 spreche man deshalb von "Diät Berlusconi", um die Vorteile zu skizzieren, welche die Regierungszeit des Unternehmers für Italien gebracht habe. Das Rechtssystem ist 2010 eine "Justiz AG", die spektakulären Prozesse werden nicht mehr im Gerichtssaal, sondern im TV-Studio inszeniert. Die Berufungsverfahren finden dann jeweils in einer anderen Fernsehshow statt. Das Turiner Blatt Li Foglio berichtet darüber, dass sich Präsident Berlusconi weigert, die Gesetzesklausel SS70A auf die Strafbestimmung für Viehdiebstahl anzuwenden. Die Klausel SS70A gilt für alle Bürger, außer für jene, die "mit Vornamen Silvio heißen und in Arcore wohnen" und wird bei Bilanzfälschung, Korruption in öffentlichen Ämtern, Geldwäsche, ungenehmigtes Bauen angewandt. "Großzügigerweise" aber nicht auf Viehdiebstahl oder "den Besitz von Werken, die zum Terrorismus aufhetzen, wie die Schriften von Norberto Bobbio".

Berlusconis irritierende Herrschaftsform ist eines der Hauptthemen der Zeitungskolumnen und Vorträge Ecos, die Im Krebsgang voran versammelt. Nicht mehr nach der Höhe des Einkommens sollen die Massen in dieser Form der Gouvernementalität kategorisiert werden, sondern "durch eine allgemeine Zugehörigkeit zum Universum der massenmedialen Werte", so Eco. Berlusconi habe die Phase des Interessenkonfliktes überwunden, um sich jeden Tag etwas mehr der "absoluten Interessenkonvergenz" zu nähern, "soll heißen, dem Land den Gedanken akzeptabel zu machen, daß seine persönlichen Interessen mit denen der ganzen Nation zusammenfallen." In unserer Zeit, so Ecos Fazit der Auseinandersetzung mit dem System Berlusconi, müsse eine "Diktatur, wenn es sie geben soll", nicht eine politische, sondern eine mediale sein. Populismus definiert Umberto Eco als eine Form von Regime, die versucht, die parlamentarischen Vermittlungen zu überspringen, um ein unmittelbar plebiszitäres Verhältnis zwischen charismatischem Führer und Massen herzustellen. Das Fernsehen eines medial-populistischen Regimes benutze den rhetorischen Kunstgriff, den zuletzt sprechen zu lassen, der Recht haben soll. Das mediale Regime habe es nicht nötig, seine Opposition ins Gefängnis zu stecken: "Es bringt sie nicht zum Schweigen, indem es sie zensiert, sondern indem es sie einfach als erste reden läßt". Das letzte Wort hat immer San Silvio.

Das Gegenbild ist die Funktion des Intellektuellen, die Norberto Bobbio beschreibt. Eco skizziert sie am 11.September 2004 in Turin im Rahmen des Vortrages "Die Bestimmung des Gelehrten heute". Bobbio sieht die Aufgabe des "uomini di cultura" heute "mehr denn je darin, Zweifel zu säen, nicht Gewißheiten zu ernten." Eco greift diesen Grundgedanken auf. Die intellektuelle Funktion entfalte sich nicht länger nur in der romantischen Figur des Philosophen, der sich vorgenommen hat, das menschliche Wesen zu transformieren, sondern hinzu muß die "Kritik der eigenen Rede" treten: "Die Intellektuellen lösen die Krisen nicht, sie schaffen sie". Im eigenen Lager vor allem, so Eco mit Bobbio: "Der engagierte Intellektuelle muß vor allem diejenigen in die Krise bringen, an deren Seite er sich engagiert". Die Widerrede gegen das eigene Lager sei auch um den Preis nötig, dafür "nach dem Sieg füsiliert zu werden".

Der Text über Bobbio ist nicht im Kapitel "Stationen eines Regimes" platziert, in dem sich Eco schwerpunktmäßig mit Berlusconi beschäftigt. Sondern er findet sich im dem Buchteil, der mit "Krieg, Frieden und Anderes" überschrieben ist. Schlüsseltext dieses Kapitels ist ein Vortrag, den Eco im Juli 2002 in der Mailänder Comunitá di Sant'Egidio gehalten hat. Er trägt den Titel "Einige Überlegungen über Krieg und Frieden". Das Thema sind die sogenannten "Neukriege" auf dem Balkan, am Persischen Golf und in Afghanistan. "Neukriege" bilden für Eco den Gegensatz zu den jahrhundertelang geführten "Altkriegen", in denen es darum ging, einen Gegner so zu besiegen, dass man aus seiner Niederlage einen Gewinn ziehen konnte und in denen der Zusammenstoß in der Regel frontal und auf erkennbaren Territorien stattfand. Im "Neukrieg" ist hingegen "unklar, wer der Feind ist", so Eco: "Alle Iraker, alle Serben? Wen genau muß man vernichten?" Der Neukrieg sei nicht frontal und könne aufgrund des multinationalen Kapitalismus nicht mehr frontal sein. Der "Neukrieg" stelle nicht mehr zwei Vaterländer gegeneinander, sondern bringt unzählige Mächte in Konkurrenz zueinander. Auch die Medien spielten dabei eine wichtige Rolle. Nach dem 11. September 2001 habe ein ehemaliger CIA-Direktor in einem Interview der Zeitung Republica gesagt, "der zu bombardierende Feind seien paradoxerweise die Banken in Steuerparadiesen wie den Cayman Islands gewesen und vielleicht auch diejenigen in den großen europäischen Städten." Den Afghanistan-Krieg sieht Eco in gewisser Weise als ein "Simulacrum eines Altkrieges", der militärisch nicht zu gewinnen sei.

Vieles von dem, was Im Krebsgang voran bietet, ist nicht neu, weder zur Medienentwicklung noch zum "Kampf gegen den internationalen Terrorismus". Doch was Eco auszeichnet, ist seine Fähigkeit, Dinge begrifflich auf den Punkt zu bringen. Seine Sprache 'sitzt', sie bleibt hängen. Er weiß selbst, dass "gymnastische Übungen am Reck der Verallgemeinerung" immer gefährlich sind, dass man damit schnell neben die Matte purzeln kann. Doch die Abstraktionen, die Umberto Eco anbietet, sind lesens- und bedenkenswert. Eine Fundgrube sind vor allem die kurzen Zeitungsessays: Ob er den Leser an Issac Asimovs Science-Fiction-Erzählung "Franchise" erinnert, indem in einem automatisierten Wahlsystem ein einziger Wähler die kaum noch vorhandenen politischen Differenzen verkörpert und die Wahl entscheidet, oder den Hinweis auf Furio Colombos Buch Privacy gibt, in dem die Ausdehnung des Big-Brother-Containerprinzips auf die gesamte Gesellschaft beschrieben wird und jeder einen kleinen tragbaren Monitor bei sich führt – Eco öffnet vielerlei Türen in literarische Nebenräume, durch die wir nur gehen müssen. Im Krebsgang voran zeigt: Umberto Eco verkörpert idealtypisch Bobbios Ideal des "uomo di cultura", dem es zutiefst suspekt ist, wenn die Mächtigen "sich des Volkes bedienen", um ihre Interessen durchzusetzen und der als Gegengift empfiehlt, sich der Bücher zu bedienen. Die Askese der gründlichen Lektüre als Gegengift zur Diät des medialen Populismus.

  

> Dr. Ludger Fittkau, Dipl.-Sozialpädagoge und Sozialwissenschaftler M.A., arbeitet als freier Journalist in Darmstadt. Soeben erschienen ist ein Beitrag von ihm zur Bestattungskultur heute in dem bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 2007 verlegten Sammelband Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien. (> Rezension)