Helge Schalk

Etwas mehr Nichts:
Von Nashörnern, Schraubenziehern und anderen gefährlichen Sachen

Rezension zu:

Umberto Eco: Kant und das Schnabeltier. Aus dem Italienischen von Frank Herrmann.
München, Wien: Hanser, 2000. 584 Seiten, 26 s/w-Abbildungen,
ISBN 3-446-19869-5, DM 58,00/ÖS 423,00/SFR 55,00 (kart.).

Wenn ein Autor die Frage, ob man sich sinnvollerweise mit einem Schraubenzieher am Ohr kratzen sollte, mit der Frage nach der prinzipiellen Erkennbarkeit des Seins verknüpft, muss es sich bei diesem Autor zwangsläufig um Umberto Eco handeln. Für dieses Gesetz ist kein anstrengender Abduktionsschluss erforderlich, denn niemand versteht sich so gut darauf, Hardcore-Semiotik elegant als Lesevergnügen zu tarnen, dies steht mindestens seit La struttura assente (1968) fest. Mit der ihm eigenen – vorgeblichen, nur auf der sprachlichen Oberflächenstruktur nachweisbaren – Leichtigkeit hat sich Eco die Frage vorgelegt, ob es trotz des Peirceschen Diktums, dass auch Wahrnehmungsprozesse semiotischen Gesetzmäßigkeiten folgen (vgl. insbes. S. 148 und dazu S. 520 f.), einen Bereich des Präsemiotischen geben könne, und Eco formuliert diese Frage zunächst als Frage nach dem Sein: Wird es (sprachlich, im engeren Sinne) bezeichnet oder west es uns an?

Allein die Formulierung dieser Frage ist für Eco vor dem Hintergrund seiner semiotischen Theoriearchitektur ein Problem, denn wenn alles Wahrnehmen Interpretieren ist, also ein aktiver Prozess innerhalb kultureller (Signifikations-)Systeme, dann kann es nichts Neues auf der Welt geben, nur eine (bereits immer zugestandene) Modifikation bestehender Signifikationssysteme, die Sein enzyklopädisch erfassen helfen, es strukturieren. Gibt es aber doch: z. B. Schnabeltiere oder Einhörner, die eigentlich Nashörner sind; oder Ohrenkratzer, die eigentlich Schraubenzieher sind. Haben also die Dinge nicht auch etwas zu sagen, etwas, das Interpretationsprozesse richtig oder falsch werden lassen kann? Sagt der Schraubenzieher nicht irgendwie: "Benutz mich ruhig zum Ohrenkratzen, aber du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du kein Wattestäbchen nimmst!"? Ecos Antwort auf diese Frage anhand eines der für ihn typischen Alltagsbeispiele ist ein klares Sowohl-als-auch (nicht weiter überraschend, denn an seiner Vorliebe für 'dialektische' Argumentationen hat sich in den letzten 42 Jahren nichts geändert), das den Blick auf Genese und Eigenart kultureller Signifikationsmechanismen lenkt.

Das Grundmuster der Erfahrung ist ein semiotisches – Eco nennt es nun "hermeneutisch", ganz ohne Sarkasmus und bei ernsthafter Auseinandersetzung mit Heidegger! –, aber die Dinge setzen der Erfahrung Grenzen, und daran sind allein die Dinge Schuld. Dies ist nun wirklich nicht mehr der Grundgedanke von La struttura assente (die abwesende Struktur) und ebensowenig der von Semiotik (1975), Lector in fabula (1979), Semiotik und Philosophie der Sprache (1984) oder Die Grenzen der Interpretation (1990). In letztgenanntem Buch hatte sich Eco noch auf die Peircesche Interpretationsgemeinschaft herausgeredet, die Wahrheit von grobem Unfug zu unterscheiden helfe. Allerdings hatte er sich bei seiner Grenzziehung auf (literarische) Texte beschränkt, und diese unterscheiden sich von vielen anderen Dingen eben dadurch, dass sie absichtsvoll gestaltet sind – von einem oder mehreren zumeist nicht unbewegten Bewegern. In Texten also einen semiotischen Mechanismus zu vermuten, der die Interpretationsbewegung leitet, und diesen intentio operis zu nennen, ist eine Behauptung, die zwar nicht die uneingeschränkte Zustimmung der Interpretationsgemeinschaft fand, jedoch insgesamt wenig gewagt erscheint, auch wenn es argumentationsstrategisch zumindest beklagenswert ist, dass Ecos Textintention letztlich identisch ist mit der Autorintention – und letztere wird bekanntlich von Eco (für Die Grenzen der Interpretation muß man sagen: gleichzeitig) geteert und gefedert aus der Stadt gejagt.

Bei Nicht-Texten ist eine ähnlich pragmatische Problemlösung weniger konsequent, da eine semiotische Kulturtheorie mehr bieten muss als einen pragmatischen Konsensualismus, um nicht bei Signifikationssystemen stehenzubleiben, die alleine lediglich der recognition of the familiar das Wort reden. Und daher greift Eco in Kant und das Schnabeltier wieder weit aus. Von Parmenides über das Mittelalter hin zu Kant und weiter in die Moderne, zu sich selbst und wieder zurück. Wohlgemerkt, nicht aus "Allmachtswahn", sondern aus "Berufspflicht" (S. 12) entstand ein neuerlicher, differenzierter, sich selbst korrigierender Begründungsversuch der Semiotik, die erkenntnistheoretisches Fundament und Methode zugleich sein soll.

"Womit befasst sich dieses Buch? Mit dem Schnabeltier, mit Katzen, Hunden, Mäusen, Pferden, aber auch mit Stühlen, Tellern, Bäumen, Bergen und anderen Dingen, die wir jeden Tag sehen, und mit den Gründen dafür, daß wir einen Elefanten von einem Schrank unterscheiden (und auch mit denen, weshalb wir unsere Gattin gewöhnlich nicht mit einem Hut verwechseln)." (S. 9) Wie immer: Vieles ist Zitat, das meiste Anspielung, alles – ich betone es noch einmal – nur auf der sprachlichen Oberflächenstruktur leicht und ironisch. Wenn Eco dann den Problemen nachgeht, wird der Text sorgfältige, akribische Exegese, und schon stecken die Leserinnen und Leser wieder drin – im Labyrinth der Zeichen(theorie). Eine mögliche Problematik, die durch das komplexe Thema des Buchs, die Relation Sachen-Zeichen-Interpretation, hindurchfinden hilft und zugleich die Schwierigkeit Ecos zeigt, über ein mögliches präsemiotisches Etwas zu sprechen, ist das Kompositum "Wahrnehmungssemiose" (vgl. insbes. S. 128-151). Als was nehmen Menschen etwas wahr, beispielsweise Schnabeltiere oder Pferde, wenn sie dieses Etwas nicht kennen (und d. h. es nicht einordnen können in die Strukturen, die ihre Kultur ordnen)? Und welche Auswirkungen hat dieses Etwas, indem es zum Als-etwas wird, für diese ordnenden Strukturen? Das ist erneute und erneuerte Grundlagenforschung an der Theoriegestalt der Semiotik, die Eco hier betreibt. Ich finde es löblich, dass Bekanntes dabei nicht vorausgesetzt wird, manche/n wird es stören. Der Erfolg, den Ecos Buch hierzulande haben wird, lässt sich jedenfalls schon jetzt absehen: Bereits wenige Monate nach Erscheinen der deutschen Ausgabe hat die Wissenschaftliche Buchgesellschaft den Titel als Lizenzausgabe in ihr Programm aufgenommen. Dass allerdings die deutsche Übersetzung erst mit dreijähriger Verspätung erscheint (Originalausgabe: Kant e l’ornitorinco. Milano: Bompiani 1997), ist bedauerlich.

Statt eines eigenen Fazits verweise ich auf das von Reinhard Brandt, der feststellt: "Wer sich endlich bis in das Dickicht der Fußnoten vorgelesen hat, wird für lange Zeit zwischen den Fragmenten des Parmenides und Hjelmslevs Linguistik verloren sein, aber nach einigen Jahren als enzyklopädischer Gelehrter zurückkehren."* Es sei denn, wäre zu ergänzen, zuvor kommt Ecos nächstes Buch dazwischen.

 

* Reinhardt Brandt: Der weltbekannte Sonderling watschelt auf dem Boden der Tatsachen (Rez.). In: FAZ, Nr. 70 (Dienstag, 24. März 1998), S. L 26.