Helge Schalk: Rezension zu

Ronnie M. Peplow: Ernst Cassirers Kulturphilosophie als Frage nach dem Menschen. Würzburg: Könighausen und Neumann, 1998 (Epistemata: Reihe Philosophie; Bd. 225) 200 Seiten. DM 58,–. ISBN 3-8260-1312-3.

In den letzten Jahren erlebt das Werk Cassirers eine erstaunliche Renaissance. Teilte Cassirer seiner Zeit das Schicksal jener emigrierten jüdischen Intellektuellen, deren Werk kaum je angemessene Würdigung erfuhr, wurde die Rezeption seiner Symboltheorie und Kulturphilosophie noch erschwert durch die drückende Übermacht, die die Heideggersche Philosophie ausstrahlte. Spürbar ist die daraus resultierende Herabwürdigung – oftmals wird die Symboltheorie bloß historisierend rasch in die Schublade des Neukantianismus abgeschoben – noch in Apels ausgreifender Studie über die Transformationen der Philosophie, in der Cassirer nur am Rande Erwähnung findet, obwohl er für sich in Anspruch nehmen darf, eine anspruchsvolle Transformationsleistung verfolgt zu haben, indem er Kants Vernunftkritik konsequent in eine "Kritik der Kultur" überführte. Erst in der neueren Semiotik wurde dann Cassirers eigentliche Leistung angemessen gewürdigt, und es wurden systematische Anknüpfungspunkte markiert und fortgeführt. Heinz Paetzold, John Michael Krois u. a. machten deutlich, daß die Symboltheorie, indem sie das Leibnizsche Projekt einer characteristica universalis fortzuführen suchte, eine Zeichentheorie umfassender Geltung errichtete, die, gerade weil sie als Kulturtheorie intendiert war, in der aktuellen Diskussion um die Theoriebildung der Semiotik entscheidende Akzente zu setzen vermochte.[1] Aktuell auch ist Cassirers Bestreben, bei allen Versuchen, eine grundlegende Struktur der Symbolisierung kenntlich zu machen, die Eigenständigkeit der ausdifferenzierten Kulturbereiche hervorzuheben. Wirkungsgeschichtlich betrachtet findet jenes Projekt Nachhall in der Diskurstheorie von Charles William Morris und später, freilich in radikalisierter Form, bei Lyotard.

 
Peplows Studie legt das Hauptaugenmerk auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (PsF), die als konsequente Transformation der kantischen Transzendentalphilosophie in eine Kulturphilosophie dargestellt und zugleich vor ihrer weiteren anthropologischen Zielsetzung gedeutet wird. Peplow liest Cassirer zum einen im Zusammenhang mit jenen Positionen, die für die Genese des Cassirerschen Ansatzes entscheidend sind, zum anderen mit der Strukturalen Anthropologie. Dabei stellt sich die Arbeit dem Versuch, die beiden Hauptthemen der Cassirerschen Philosophie, Kulturtheorie und Anthropologie, in ihrer systematischen Vernetzung deutlich herauszustellen. Gezeigt wird etwa, daß der späte Cassirer des Essay on Man nicht isoliert von den systematischen Voraussetzungen betrachtet werden darf, die mit der PsF geschaffen worden sind.

 
Der erste Teil der Studie, "Die Fortsetzung der kopernikanischen Drehung", wendet sich zunächst Humboldts Sprachtheorie zu, mit dem Ziel zu zeigen, daß das Anliegen der PsF nicht nur vor dem Hintergrund des Neukantianismus betrachtet werden darf. So wird etwa Cassirers Sprachkonzeption von der These getragen, daß diese keine rein abbildende oder widerspiegelnde Funktion im Hinblick auf die phänomenale Welt hat; vielmehr ist Sprache, wie auch andere symbolische Formen, ein Instrument der Synthese zwischen dem Was und dem Wie der Erfahrungswelt. Daß im Zentrum des ersten Kapitels eher Humboldt als Cassirer steht, erklärt sich dadurch, daß dessen Sprachphilosophie die Genese und systematische Ausrichtung der Symboltheorie entscheidend beeinflußt hat.

 
Von diesen Grundlagen geht Peplow im zweiten Kapitel, "Rekonstruktion der 'Philosophie der symbolischen Formen'", zur Cassirerschen Kulturphilosophie über und verdeutlicht diese durch die Impulse, die Cassirer aufgegriffen und systematisch in seiner PsF verarbeitet hat. Der Akzent wird hier auf eine detaillierte Nachzeichnung der Begründung, Reichweite und philosophiesystematischen Konsequenz von Cassirers Kulturphilosophie gelegt, in deren Mittelpunkt der Formbegriff steht. Überzeugend erläutert wird, wie Cassirers Prämisse einer unhintergehbaren Synthese zwischen dem Was und dem Wie der Erfahrung zu einer grundsätzlichen Konvergenz von geistesgeschichtlichen Problemstellungen einerseits und systematischer Grundlegung der Philosophie andererseits führt (vgl. bes. S. 68).

 
Im dritten und letzten Kapitel, "Konturen einer symbolischen Anthropologie", arbeitet Peplow die Grundannahmen von Cassirers Anthropologie heraus, indem er vergleichende Seitenblicke auf die Strukturale Anthropologie, den Strukturalismus und die Ethnologie wirft. Dieses Verfahren wirkt mitunter ein wenig gezwungen, da es gelegentlich zu sehr von Cassirer selbst wegführt – die Ausführungen zu Lévi-Strauss und Propp haben eher Exkurscharakter.


Dennoch: Peplows Studie ist eine sinnvolle, klar geschriebene und gegliederte Ergänzung zu denjenigen Arbeiten der letzten Jahre, die sich dem Cassirerschen Oeuvre nicht bloß aus rein historischem Interesse gewidmet, sondern systematische Anknüpfungspunkte aufgezeigt haben. Einmal mehr wird die Aktualität der kulturphilosophisch ausgerichteten Symboltheorie – hier mit wissenschaftstheoretischen und anthropologischen Schwerpunkten – deutlich gemacht, die bereits Krois mit Blick auf Richard Rorty polemisch fragen ließ, ob eigentlich "die heutige Philosophie den Stand der Philosophie der symbolischen Formen erreicht hat". [2]
     

Anmerkungen:

[1] Vgl. z. B. John Michael Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History. New Haven, London 1987 und Heinz Paetzold: Die Realität der symbolischen Formen: die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext. Darmstadt 1994. Überdies scheint Cassirer inzwischen schon zum Klassiker der Semiotik geworden zu sein, wie ein ausführlicher Lexikonartikel in dem 1997 neu erschienenen Handbuch zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 13.1 (Semiotik) belegt.

[2] John Michael Krois: Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen. In: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hrsg. von Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth. Frankfurt/M. 1988, S. 15-44, hier S. 30.