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Textpragmatik

Die frühen Gedanken zur Ästhetik baut Eco konsequent zu einer semiotischen Textpragmatik aus, die er über die Jahre auch neu akzentuiert hat. Zur Textpragmatik hat er vor allem Stellung genommen in Lector in fabula, seiner Nachschrift zum "Namen der Rose", in Die Grenzen der Interpretation, Streit der Interpretationen sowie in dem Sammelband Zwischen Autor und Text. Bereits in den 1970er Jahren konturiert Eco eine Modellrollenkonzeption, die das Zusammenspiel von Text und Rezipient erläutern soll. Texte und Leser entwerfen sich wechselseitig auf der Basis von Vermutungen über ihr jeweiliges Gegenüber, die sich in Modellrollen von Autor und Leser manifestieren. Wichtig ist Eco, dass der Autor im Prozess der Interpretation nur noch als interpretierend entworfene Modellrolle existiert, nicht also als empirische Person, die womöglich noch den Prozess des Interpretierens sanktionierte. Als Korrektiv möglicher Interpretationen fungiert ausschließlich der Text: "Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört."

Eco untersucht den Prozess literarischer Kommunikation, für den kennzeichnend ist, dass weder der Leser für den Autor, noch der Autor für den Leser präsent ist; Sender und Empfänger literarischer Kommunikation sind mithin "vielmehr in der Aktantenrolle des Ausgesagten", wie Eco mit Hinweis auf Roman Jakobson schreibt, also im Text als Strategie und Stil präsent.  Texte postulieren daher "ideale Leser", deren Interpretationsmöglichkeiten sanktioniert werden, je nachdem ob es sich um einen "offenen" oder einen "geschlossenen" Text handelt.  Daher erscheint die ästhetische Kategorie der Offenheit auch als qualitativer Begriff, der anspruchsvolle von Unterhaltungsliteratur unterscheidet. Viele, auch divergierende Interpretationen zu eröffnen, ist ein literarisches Qualitätsmerkmal. Als Musterbeispiel dient hier Joyces zweiter großer Roman Finnegan’s Wake. Korrektiv zulässiger Interpretationen ist der jeweilige Text als semiotisches Gefüge, als vom Autor entworfene, selbstregulierende mögliche Welt mit je eigener Ontologie.

Eco versucht mithin, die Interpretation literarischer Texte gegen den Widerstand poststrukturalistischer Theorieansätze an ihren eigentlichen Gegenstand zu binden, den Text. Dieser wird als eine Rezeptionsprozesse regulierende und partiell kontrollierende "Maschine zur Erzeugung von Interpretationen" gedacht.  Texte benötigen ihre Rezeption, um zu funktionieren, werden aber gleichzeitig nur dann als gestaltete Strukturen verwirklicht, wenn auch den Rechten der Texte Geltung verschafft wird.  Selbst offene Kunstwerke, die vielfältige, ja sogar einander widersprechende Interpretationen zulassen, sanktionieren ihre eigene Interpretation und erlauben also keine banale, eindimensionale Lektüre. Einem solchen Missverständnis würde erliegen, wer etwa Ecos Rosenroman allein als Detektivgeschichte läse. So wird Derridas Insistieren auf einer Theorie der Fehlinterpretation, des "misreading", mit der Überlegung konfrontiert, dass man eine zumindest vage Vorstellung davon benötige, was ein Text sei, wenn man sagen wolle, was er nicht sei.  Und Eco zeigt auch, dass es Texte gibt, die auf eine eindeutige Interpretation dringen, unmissverständlich sein wollen. Dies sind nicht nur die ästhetisch entwerteten Texte, die man oft als Trivialliteratur bezeichnet, sondern eben auch pragmatische Texte wie eben jene literatursemiotischen, in denen Eco diese Texttheorie eindeutig nachvollziehbar entfaltet.

Daher insistiert Eco Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre auf eine "intentio operis", eine Textintention, die es in der Lektüre und Interpretation zu beachten gelte. Denn ein Text sei kein "Picknick, zu dem der Autor die Wörter beisteuert und die Leser den Sinn".  Der Semiotiker müsse in der Frage der Textinterpretation eine Zwischenposition beziehen, die sowohl die Suche nach eine Autorintention als auch nach beliebigen Leserintentionen (für letzteres stehen exemplarisch Jacques Derrida und Stanley Fish) ausschließt. Daher "sucht eine Semiotik der Interpretation (Theorien vom Modell-Leser und von der Lektüre als einem Akt der Mitarbeit) gewöhnlich im Text nach der Gestalt des konstituierenden Lesers, und das heißt, daß auch sie in der intentio operis das Kriterium zur Bewertung der Manifestationen der intentio lectoris finden möchte."  Die Interpretationen der Leser müssen durch den Text belegbar sein. Dabei kennt Eco zwei unterschiedliche Interpretationshaltungen, die sich modellhaft in einem "semantischen" ("naiven") und einem "kritischen" Leser manifestieren.  Während der semantische Leser das Spiel des Textes spielt, deckt der kritische Leser die Spielregeln des Textes auf, indem er ihn als semiotisches Gefüge analysiert und beschreibt. Beide Aktivitäten stehen dann in striktem Gegensatz zum "misreading" bzw. zum "Gebrauch", ein Begriff, der in striktem Gegensatz zu dem der Interpretation steht. Wichtig erscheint, dass Eco seine bereits in den späten 1960er Jahren konturierte Textpragmatik später neu akzentuiert, indem er weniger von der Freiheit der Interpretation als vielmehr von den Rechten des Textes spricht. Dazu Eco rückblickend 1987: "Wenn es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Opera aperta (1962) und Lector in fabula (1979; deutsch 1987) gibt, dann liegt er in dem Umstand, daß ich in meinem zweiten Buch [also in Opera aperta; HS] die Wurzeln der künstlerischen ,Offenheit’ ebenso in der Eigenheit eines jeden kommunikativen Prozesses wie in der Eigenheit eines jeden Systems der Bedeutungen zu finden suche."  Die epistemologische Schwierigkeit einer erkenntnistheoretischen Begründung der Textpragmatik mittels einer dialektischen Argumentation, die sowohl den Text als auch den performativen Prozess literarischer Kommunikation für die Genese von Sinn verantwortlich macht, versucht Eco mithin später durch die Fokussierung auf den Text als semiotisches Gewebe zu entschärfen.