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Der Detektiv auf der Suche nach sich selbst

Rezension zu: Umberto Eco: Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Illustrierter Roman. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München, Wien: Hanser, 2004 (La misteriosa fiamma della regina Loana. Milano: Bompiania). 508 Seiten, ISBN: 3-446-20527-6. Broschiert. EUR 25,90.

   
Dieser Text als PDF-Datei. Ecos Roman erzählt die Geschichte des Antiquars Giambattista Bodoni, genannt Yambo, der als Folge eines Schlaganfalls weite Teile seines Gedächtnisses verliert. Insbesondere fehlt dem Protagonisten sein autobiografisches Gedächtnis; er wird nach seinem Erwachen aus dem Koma gewissermaßen wiedergeboren und ist gezwungen, sich seine Erlebnisse und Erfahrungen neu zu erarbeiten. Der Roman ist als Ich-Erzählung konzipiert, und die Leser/innen verfolgen in der Lektüre den Versuch des Protagonisten, das eigene Leben über Dokumente, Orte, Personen, hauptsächlich aber über Lektüren neu zu erinnern und dadurch wiederzugewinnen. Dass der Protagonist den Namen eines der berühmtesten Schriftsetzer, eben der historischen Figur Giambattista Bodoni trägt, ist kaum ohne Grund. Erinnerungen an das eigene Leben werden aufgeschrieben; in einer Schriftkultur kann nur Geschriebenes erinnernd bewahrt oder eben (wieder) hergestellt werden. Die Erzählung des Romans als Erzählung des Lebens, die sich in Erzählungen manifestiert: wie in den vorherigen Romanen, insbesondere in Baudolino, bleibt Eco dem Thema Narration treu.

Das Material, auf das Eco diesmal zurückgreift, besteht nicht nur - wie sonst - aus literarischen und philosophischen, Leserinnen und Lesern mehr oder weniger bekannten Quellen. Hinzu kommen Trivialliteratur, Comic, Werbung, Kinderbücher, Musik, Film und Dokumente faschistischer Propaganda, aus denen der Protagonist anamnetisch Honig zu saugen versucht. Der Roman wird zu einem Cluster sich überlagernder Zitate und Quellen, die Eco neu kombiniert. Herauskommen soll für den Protagonisten die Erinnerung an die eigene Kindheit und Jugend.

Ecos Roman ist wie seine früheren mehrschichtig konzipiert und bietet Leserinnen und Lesern unter der Oberflächenstruktur des Plots drei unterschiedliche Lesarten an: eine autobiografische, eine historisch-politische und eine semiotische.

Der Protagonist Yambo wurde wie sein Autor im Winter 1931/32 in Italien geboren und ist wie sein Autor Büchernarr und -sammler. Es steht zu vermuten, dass der Autor Eco seinen Leserinnen und Lesern hier viele Einblicke in die eigene Sozialisation und Lebenswirklichkeit gestattet, wenngleich dies - verschleiert wie eh und je - eher implizit als explizit geschieht: nämlich über die Buchtitel, die dem Protagonisten - er bescheinigt sich selbst ein papierenes Gedächtnis (vgl. S. 464) - wichtig sind. Diese Buchtitel verweisen auf Subtexte, die geneigte Leser/innen gern rekonstruieren und beziehungsreich, damit aber ungewiss deuten mögen. Ein Anhang hilft, die zahlreichen Zitate zuzuordnen. Eco scheint anzuerkennen, dass nicht alle seine Leser/innen über eine ähnlich umfassende literarische Kompetenz verfügen. Die autobiografische Erzählung aber entzieht sich durch das Gewebe an Zitaten, wie stets in Ecos Romanen, einer konkreten Festlegung auf die eine, richtige Deutung. Dies ist selbstverständlich Absicht, denn wer Zeichen streut und deren Bedeutung mitlieferte, wäre keine Semiotiker von Ecos Rang: Ungewiss, mehrdeutig muss das Erzählte bleiben: Der Autor ist tot, möchte der Rezensent gern schreiben, es lebe der Autor - wenn dies nicht ein allzu plattes Plagiat wäre.

Als historisch-politischer Roman berichtet die "geheimnisvolle Flamme" den Leserinnen und Lesern mit den Versuch des Protagonisten, sein eigenes Leben durch eine Rekonstruktion wiederzugewinnen, viel über das Kriegs- und Nachkriegsitalien, insbesondere über die Ikonen aus Werbung, Comic, Film und Literatur, die in Zeiten des Faschismus zu Instrumenten der Indoktrination werden. Hier geht Eco über das Genre hinaus, indem er den Roman gewissermaßen als Multimedium gestaltet: Zahlreiche Farbabbildungen illustrieren die Dokumente, die der Protagonist anamnetisch, auf der Suche nach Erinnerung an das eigene Leben studiert. Aber es finden sich auch ausgreifende, brillant erzählte Passagen, die die Partisanenkämpfe gegen die italienischen und deutschen Faschisten dokumentieren.

Interessant ist auch die semiotische Lesart, die Ecos Roman nahe legt. Wie in den früheren Romanen ist der Protagonist eine Detektiv-Figur, diesmal allerdings auf der Suche nach sich selbst. "Der Sherlock Holmes da, das war ich, in diesem selben Moment, bemüht, ferne Geschehnisse aufzuspüren und zu rekonstruieren, von denen ich vorher nichts gewusst hatte [...]. Ihm war es auf diese Weise gelungen, das Verdrängte wieder ans Licht zu holen. Würde auch ich das schaffen? Immerhin hatte ich nun ein Vorbild." (S. 168) Zeichen werden auf Bedeutungen hin untersucht, Bedeutungen auf die fehlenden Zeichen. Dazu passt das Thema von Amnesie und Anamnesis: Im Roman können Leser/innen einen präsemiotischen Erfahrungsraum betreten, einen Raum, in dem es Zeichen ohne Bedeutung für den Protagonisten gibt, aber auch Bedeutungen, deren zeichenhafte Herkunft ihm unbekannt ist. So geht Yambo ganz selbstverständlich mit seinem Wissen über historische Tatsachen um, weiß aber nicht, woher er diese kennt. Oder - umgekehrt - weiß Yambo, dass sich seine Lebensgeschichte aus Dokumenten und Berichten von Personen erschließt, kann diese aber nicht angemessen deuten. Wie in einer großangelegten cartesianischen Meditation sucht der Protagonist in Büchern und Zeitdokumenten nach seinem eigenen Ich. Nach der Genese seines politischen, religiösen und erotischen Bewusstseins. Freilich um den Preis, es - kaum gewonnen - erneut zu verlieren. Ist das wiedererinnerte Leben identisch mit dem erlebten? Oder sucht Yambo ex post nach einer Perfektion seiner Kindheit? Dies deutet sich an, wenn der Protagonist in einer Art Truman Show und inspiriert durch Stevensons Schatzinsel erinnert, sich als Kind im Krieg beim Betrachten der Briefmarkensammlung auf die Fidschi-Inseln gewünscht zu haben (vgl. S. 282 f.).

Ecos Roman ist leitmotivisch um die - ambivalenten - Symbole Nebel und (mysteriöse) Flamme konstruiert. Dabei jagt Yambo einer "Flamme" nach, die seinem ganzen Leben, wiederum ex post, einen Sinn zu geben scheint: der Jugendliebe Lila Saba. Sie wird anamnetisch zur Königin Loana - übrigens die Heldin aus einem, wie der Protagonist befindet, äußerst kitschigen Comic-Strip.

Eco ist es wieder einmal gelungen, einen wirklich unterhaltsamen Roman vorzulegen, der Leserinnen und Lesern ermöglicht mitzuerleben, was der Protagonist erlebt: Stöbern in alten Kisten auf einem verstaubten Dachboden. Eine wundervolle Allegorie des Lebens. Kann diese anders als apokalyptisch enden?

Helge Schalk